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Das Jahrtausend ist aus

1
Die Quader EWIG und NIE
überlasse ich denen,
die Pyramiden daraus
errichten lassen für sich.

Ich sage: Bald
ist das Jahrtausend aus
und das neue beginnt,
wie das alte endet: Zu spät.
Für mich ist das Glück
Dunkel- und Lichtjahre fern.

Doch ich liebe noch immer die gleiche Frau
und gehe noch immer in ausgetretenen Schuhn
und schlucke noch immer die tägliche Dosis
Geschwätz, und weiß nicht, wie lang halt ich's durch?

Und noch immer lockt mich das: Losziehn,
der Wüste eine Oase abzutrotzen,
dem Dschungel eine Lichtung,
dem Meer eine Insel,
ein Leben dem Tod.

2
Aber sieh dir unsere Städte an:
Der Löwenzahn lacht uns aus,
obwohl er nichts ahnt
von seiner Vollkommenheit.

Die Evolution kichert
über unseren Eifer, Neues,
immer Neues zu schaffen, nur
damit wir nicht altern, und wenn
wir alt sind, das Alte zu preisen
als die letzte große Entdeckung.

Sieh dir das Land an:
Zusammengepreßte Böden. Wälder,
krank vom Atem der Industrie. Wasser,
stinkend von Fortschritt. Und nichts
kommt mehr ohne uns aus. Das
ist unser Verdienst, daß wir Sonnen
an den Himmel nageln können,
selbst Gene ummodeln, bis sie
unserer Freßsucht genügen.

Und ich seh meine Brüder verhungern
im Schatten der Kosmodrome,
seh meine Schwestern gesteinigt
im heiligen wie im heillosen Land!

Ich kann nicht fort aus meinem Jahrtausend
der Kurzschwerter, Langstreckenbomber,
Münzen und Massaker, weil es
in meinen Adern fließt, wie das Blut
aller Fahnen. Jahrtausend
der Teilchenbeschleuniger,
Bärentöter und Gaskammerspezialisten.

3
Aber schön ist es, wenn sich ein Mensch
im Weltall bewegt, ein Gewehr
an einem Baumstamm zerbricht,
wenn der Geschützlärm verstummt,
aus den Bergen Rebellen heimkehrn
ins Dorf, um ihr Feld zu bestelln.

Schön sind die Mädchen Managuas,
wenn sie das Koppel lockern und tanzen,
schön ist die Hand des Mannes,
die den Schlag verweigert
in das Gesicht seiner Frau,
die Kinder sind schön,
die in Addis Abeba die Scheiben
der Landrover putzen. Doch jede
Heimat wird zum Exil,
wenn man nicht fortgehen kann.

4
An einem Tag, wie reife Ähren gelb,
an einem Tag, wie Kornblumen blau,
an einem Tag ohne Flutwelle, Erdbeben,
Flugzeugabsturz und Reaktorunfall,
an einem Tag ohne Gummiknüppel,
ohne Tränengas und elektrische Stühle,
an einem Tag, der die Menschheit nicht spaltet
in Neger, Juden, Schwule, Lesben und solche,
die Recht haben, an so einem Tag
beginnt das dritte Jahrtausend,
von dem wir nichts wissen,
als daß es beginnt.


1989

(c) Henry-Martin Klemt